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"Wahrheit ist oft das Gegenteil vom Klischee"

Ulrike Sommer
9. Oktober 2017

"Die Hauptstadt" ist ein Roman über die Bürokratie der EU-Kommission und ein kühnes Gedankenspiel zur richtigen Zeit. Im Interview erzählt Robert Menasse, Gewinner des Deutschen Buchpreises, wie sein Werk entstanden ist.

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Deutscher Buchpreis 2017 | Robert Menasse, nominierter Autor
Bild: picture-alliance/dpa/A. Dedert

DW: Herr Menasse, Sie haben zum Thema EU ja schon Essays und Sachbücher verfasst. Wie aber kam es zu der Idee, einen Roman zu schreiben?

Robert Menasse: Der Roman oder die Romanidee war sogar am Anfang. Ich bin nach Brüssel gegangen, um Beamte kennenzulernen, um zu schauen, was machen die den ganzen Tag? Wie ticken sie? Und ich wollte schauen, ob man sie so typisieren kann, dass man literarische Figuren aus ihnen machen kann. Nicht eins zu eins, also als Schlüsselroman, aber sozusagen typisiert und exemplarisch.

Es ist der weltweit erste Roman über die Europäische Union, also dieses EU-Bürokratiegebäude. Warum ist bisher keiner auf die Idee gekommen? 

Ich verstehe es ehrlich gesagt nicht. Alle großen Romane haben immer versucht den Stempel zu finden, der eine Epoche prägt. Und es ist ohne Zweifel das Bedeutsamste und das Wichtigste, was wir in unserer Lebenszeit derzeit erleben: diese schleichende politische Revolution, die wir unter dem Begriff EU zusammenfassen. Zum ersten Mal in der Geschichte werden die Rahmenbedingungen für einen ganzen Kontinent in einer Stadt, in Brüssel, entschieden. Das hat es noch nie gegeben.

Das neue Gebäude des Ministerrats in Brüssel
Zentrum der EU: Gebäude des Europarats in BrüsselBild: picture-alliance/dpa/Philippe Samyn and Partners architects & engineers - lead and design partner, Studio Valle Progettazioni architects, Buro Happold engineers

Es ist ein Faktum, dass hier etwas historisch vollkommen Neues entsteht. Und als mir das klar geworden ist, habe ich mir gesagt, das gibt es ja nicht, dass noch niemand versucht hat, das zu tun, was eigentlich die Aufgabe des Romanciers ist, nämlich zu erzählen, was stattfindet. So, dass die Zeitgenossen sich erkennen und spätere Generationen uns verstehen.

"Jetzt musst du das machen"

Sie haben in Brüssel eine Wohnung gemietet, um die Menschen, die Beamten in der EU-Administration kennenzulernen. Was haben Sie in dieser Zeit erlebt?

In den vier Jahren in Brüssel bin ich Zeitzeuge von einem Prozess gewesen, der wahrscheinlich in die Geschichte eingehen wird - als die Phase der großen europäischen Krisen. 2010 hat die große griechische Haushaltskrise begonnen, dann kam die Banken- und Finanzkrise, dann die Flüchtlingskrise. Das hat begonnen mit Griechenland, und meine Zeit in Brüssel hat geendet mit dem Brexit.

Ich war ganz nah dran, aber nicht als Journalist. Die Journalisten schauen anders, denken anders und berichten anders. Und dann habe ich mir gedacht, da habe ich jetzt eine Aufgabe, das kann jetzt nur ich machen - ohne Größenwahn. Manchmal ist man in einer Situation, wo man genau die Erfahrung macht: Jetzt musst Du das machen.

Transfer der Klischees

Was haben Sie denn in Brüssel für Typen von Menschen und Bürokraten kennengelernt? Entspricht das den Vorurteilen, die viele Bürger in den Mitgliedsländern dem EU-Beamtenapparat entgegenbringen?

Das Problem bei Klischees ist ja leider, dass ein Klischee nur dann ein Klischee sein kann, wenn es sich immer wieder in der Wirklichkeit bestätigt. Sonst könnte es ja nie ein Klischee werden. Andererseits ist ein Klischee nie die ganze Wahrheit. Die ganze Wahrheit ist oft das Gegenteil vom Klischee.

Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Arbeit der Menschen in den europäischen Institutionen im Wesentlichen nicht den Klischees entspricht, die wir haben. Mit dem Transfer der politischen Souveränität der Mitgliedsstaaten an die gemeinsamen Institutionen ist auch ein Transfer der Klischees einhergegangen.

Früher hatten ja die Beamten in den einzelnen EU-Staaten ein denkbar schlechtes Image. Sie galten als Bürokraten mit Ärmelschonern, die irgendwie weltfremd sind. Aber jetzt sind sie fein heraus. Mit dem Transfer vieler politischer Souveränitätsrechte der Nationalstaaten an die EU wurden gleich die Klischees mit entsorgt. Jetzt sind die Buh-Männer die europäischen Beamten, und man hört überhaupt nichts Negatives mehr über die nationalen Beamten. Das ist doch komisch, oder?

Betörende Transparenz

Wie offen wurde Ihnen denn bei ihren Recherchen in Brüssel begegnet?

Ich muss gestehen, mich hat die Transparenz, mit der ich da konfrontiert war, also wie offen das ist und wie hilfsbereit die sind, die hat mich schon sehr betört. Drei mal habe ich wirklich einen ganzen Tag in den Büros von Eurokraten verbracht - auf verschiedenen politischen Ebenen. Und das war sehr sehr lehrreich.

Inzwischen habe ich große Hochachtung vor dem Fleiß und den Kompetenzen, die diese Menschen haben. Und auch davor, was die alles in ihren Heimatländern zurückgelassen haben, um an diesem Projekt einer Europäischen Union zu arbeiten. Das vergessen ja viele Nörgler gerne.

Buchcover Robert Menasse Die Hauptstadt Suhrkamp September 2017
Das Buchcover von Menasses Roman

Das muss man erst einmal schaffen: Sich in der Vorbereitung auf dieses EU-Projekt eine mörderische Qualifikation zu erwerben. Drei bis fünf Sprachen sind dort normal. Und dann die Heimat aufzugeben – den sozialen Kontext, den man dort hatte, die ganzen Freunde, die Familie – die sentimentale Verbundenheiten mit dem Herkunftsort. Das alles aufzugeben und in der Regel auch noch eine Scheidung zu riskieren, nur um an diesem Projekt in Brüssel zu arbeiten. 80% Prozent der Beamten sind ja geschieden.

Gleichzeitig habe ich natürlich auch wieder sehr darunter gelitten, dass das Menschengemachte voller Abgründe, voller sinnloser Widersprüche, voller Konkurrenzdenken, voller Rachegelüste und all diesen Dingen ist. Aber warum soll das im Zentrum der EU-Bürokratie anders sein als in allen anderen Bereichen, wo wir diese Erfahrungen machen.

Sie haben in Ihrer Rede anlässlich der Feier zu "60 Jahren Römische Verträge" sehr eindringlich auf die Gefahr eines Scheiterns des Europäischen Einigungsprojekts hingewiesen. Gibt es auch Grund für Zuversicht?

Ich habe immer noch die Hoffnung - obwohl vieles dagegen spricht, vor allem die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts - dass, bevor noch mal der absolute Wahnsinn ausbricht, bevor noch einmal die europäische Zivilisation zerstört wird, also bevor alles in rauchenden Trümmern versinkt, die Menschen in Europa sagen: Nein: Diesmal nicht!

Sonst müsste man eigentlich den Kontinent verlassen. Und so sehr ich Lateinamerikaner im Herzen bin (Anmerk. d.Red. Robert Menasse hat lange in Brasilien gelebt und gelehrt): Es widerspricht meiner Sehnsucht nach Heimat. Und ich weiß, wo sie ist - in Europa.

Der Roman von Robert Menasse "Die Hauptstadt" ist im Suhrkamp Verlag erschienen und hat 459 Seiten. Er spielt in der Hauptstadt der Europäischen Union, dem Sitz der EU-Kommission, in Brüssel. Der Österreicher Menasse, geboren 1954 in Wien, wurde für "Die Hauptstadt" mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet

Das Interview führte DW-Reporterin Ulrike Sommer bereits im September 2017 anlässlich der Nominierung für den Deutschen Buchpreis.