Schwesternsolidarität gegen Männerherrschaft
Guenther Roth malt das Panorama der deutsch-englischen Familiengeschichte Max Webers
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher ...
Er sei "vielleicht als einziger in neuerer Zeit und in
einem anderen Sinne, als irgendjemand sonst heute Philosoph", bemerkte
Karl Jaspers über einen Mann, dessen Name inzwischen weniger in
Zusammenhang mit der Philosophie als vielmehr mit der Grundlegung einer
anderen wissenschaftlichen Disziplin, der Soziologie, genannt wird: Max
Weber. Dass Webers Œuvre im 20. Jahrhundert überhaupt eine derartige
Wirkungsmächtigkeit entfalten konnte, ist nicht zuletzt das Verdienst
seiner Frau Marianne, die nach dem Tod ihres Mannes für die Publikation
seiner Schriften Sorge trug. Ihr 1926 erschienenes "Lebensbild", ein
Porträt Max Webers, auf das sich nahezu alle späteren Biographen als
primäre und wichtigste Quelle stützen, prägt überdies bis heute das
Bild des Menschen. Das dürfte sich nun mit der monumentalen Darstellung
von "Max Webers deutsch-englischer Familiengeschichte 1800-1950" aus
der Feder von Guenther Roth ändern, kann doch der an der Columbia
University in New York lehrende Soziologe aufgrund ausgedehnter
Quellenstudien und Archivarbeit Marianne Webers Arbeit in wesentlichen
Punkten korrigieren.
Umso unverständlicher ist allerdings, dass der Autor
glaubt auf ein Literaturverzeichnis verzichten zu können, zumal der
Band mit einem ansonsten hervorragenden Anhang ausgestattet ist, der
neben anderen Verwandtschaftstafeln einen Abriss der Firmengeschichte
der Souchays und Webers sowie einen Überblick über die
Vermögensverhältnisse der einzelnen Familienzweige enthält.
Bietet Marianne Weber den Lesenden ein "Drama", in dem,
wie Roth formuliert, "ein stolzer Held steil aufsteigt und tief
abstürzt", der jedoch letztlich "dank des bedingungslosen Beistands der
Heldin" seine für lange Zeit erlahmte Geisteskraft und seine politische
Energie wiedererlangt, so hält Roth deren Darstellung vom "heroischen
Kampf ihres Mannes" um geistige Gesundheit und intellektuelle
Kreativität eine breit angelegte Untersuchung der deutsch-englischen
Familien-Geschichte Max Webers "im Spannungsfeld zwischen
Kosmopolitismus und Nationalismus" entgegen, in der er nicht zuletzt
die familiäre Vorgeschichte des Ahnherrn der Soziologie nachzeichnet,
der zwei "weltweit engagierten Handelsfamilien" entstammte. Auf Seiten
der mütterlichen Genealogie stand die Frankfurter Familie Souchay,
"eine der reichsten anglo-deutschen Handelsfamilien der Mitte des 19.
Jahrhunderts"; die väterliche Linie bildete die Bielefelder Familie
Weber, die eine Stellung von internationalem Rang vor allem im
Hamburger Handels- und Reedereigeschäft innehatte. Roth hat also nicht
nur eine Familiengeschichte, sondern auch eine Firmengeschichte
geschrieben, wenngleich die Darstellung jener stets ihre eigene
Berechtigung er- und behält. In dem über vier Generationen hinweg
entfalteten Porträt, einem "vielfältig verbundenen Komplex von
jüdischer Integration und Antisemitismus, weiblicher Emanzipation und
Männerherrschaft, Migration und Exil und nicht zuletzt religiöser und
weltlicher Sinngebung", lässt der Autor immer wieder einzelne
Familienmitglieder stärker hervortreten; fast immer jedoch unter
Bezugnahme auf seinen eigentlichen Protagonisten, Max Weber, dem
"späte[n] Nachfahre[n] der kosmopolitischen Bourgeoisie in einer Epoche
zunehmender nationalstaatlicher Rivalitäten".
Während Marianne Weber im "Lebensbild" die englischen
Familienbeziehungen "herunterspielte", was sich Roth durch ihr im
Gefolge des Versailler Vertrags "gekränktes Nationalgefühl" erklärt,
und den Großvater Max Webers Georg Friedrich Fallenstein "überhöhte",
gewichtet er selbst die jeweiligen nationalen Anteile der
englisch-belgischen Familiengeschichte ausgewogener. Doch legt auch
Roth gelegentlich sein besonderes Augenmerk auf die Familie
Fallenstein, das etwa in einem der "Solidarität der
Fallensteingeschwister" gewidmeten Kapitel zum Ausdruck kommt, in dem
Georg Friedrich anders als im "Lebensbild" jedoch keine sonderlich
vorteilhafte Figur abgibt, weil er gegenüber seiner zweiten Frau und
den gemeinsamen Töchtern auch für die damalige Zeit sehr
patriarchalisch agierte. So handelt es sich bei der
Geschwistersolidarität näher betrachtet denn auch um eine "Schwesternsolidarität
gegen Männerherrschaft", (Hervorhebung R. L.), in die neben Ida,
Henriette, Emilie und Max Webers Mutter Helene auch die beiden älteren
Halbschwestern Laura und Elisabeth einbezogen waren. Dabei hatten die
Frauen nicht nur gegen den autokratischen Vater zu bestehen, sondern
auch gegen die nicht weniger patriarchalischen Ehegatten, die etwa
versuchten, die Kommunikation zwischen den Frauen zu überwachen, so
dass diese zu der von ihnen sogenannten "Zettelwirtschaft" griffen:
"Vertrauliche Informationen wurden auf einem 'unoffiziellen Zettelchen'
mitgeteilt und dann verborgen oder beseitigt". Hierunter litt vor allem
Helene Weber, was sie später allerdings nicht an einer anhaltenden
Verletzung des Briefgeheimnisses ihres Sohnes Max hinderte, für die sie
sich mit, wie Roth schreibt, "mütterlichen Sorgen" zu exkulpieren
suchte.
Wie Marianne Weber im Jahre 1890 an ihren Sohn Alfred
schrieb, war sie der Überzeugung, dass allein "das 'Muss' im Leben" und
"selbstlose Pflichterfüllung" glücklich mache und innerlich vorwärts
bringe. Pflichterfüllung, auch die der "Mutterpflicht", spielte in
ihrem Leben keine geringe Rolle. Doch obwohl sie die Aufgabe, "den
Kindern eine christliche Seele, ein christliches Gewissen und ein
christliches Gemeinschaftsgefühl einzupflanzen", als die "wichtigste"
der Mutterpflichten empfand, sieht Roth in ihren pädagogischen Maximen
- entgegen einer in der Literatur verbreiteten Auffassung - "kein[en]
Ausdruck eines christlichen Rigorismus" sondern glaubt eine "zeitlose
bürgerliche Elternweisheit" erkennen zu können.
Prägender noch als die mütterliche Erziehung dürfte für
Max Weber jedoch das Verhältnis zu seinem Vater gewesen sein, das im
Jahre 1897 kurz vor seines Vaters Tod bekanntlich in der
"Familienkatastrophe" kulminierte. Aus guten Gründen und mit nicht
geringem Erfolg versucht Roth daher, trotz der schwierigen Quellenlage
anhand der verstreuten Materialien ein klareres Bild der Vorgänge um
den "'ödipalen' Konflikt" zu zeichnen, der mit dem unerwarteten Ableben
des Vaters "physisch endete". Bald darauf erfolgte der "psychische
Zusammenbruch" des Sohnes.
Roth behandelt nicht nur die Familien- und
Firmengeschichte Max Webers und seiner Ahnen, sondern wirft darüber
hinaus auch einen Blick auf dessen Weltanschauungen, Theorien und
Werke. Webers "kosmopolitische[r]" Nationalismus sei "nicht im
landläufigen Sinn kulturpessimistisch und damit anti-westlich" gewesen,
vielmehr habe er der Moderne gegenüber eine "zukunftsoffene Haltung"
eingenommen und den Universalismus der modernen Wirtschaft und
Wissenschaft sowie des modernen Verfassungsstaates "unsentimentalisch"
und "unromantisch" gegen "patriarchalische", "patrimoniale" und
"hierokratische Herrschaftsformen" verteidigt. Nichts habe Weber so
sehr gehasst wie den Autoritarismus des Kaiserreiches. In dieser
letztlich emotionalen Haltung macht Roth einen nicht unwesentlichen
"Beweggrund" für die Niederschrift von Webers vielleicht wichtigstem,
jedenfalls aber bekanntestem Werk "Die protestantische Ethik und der
Geist des Kapitalismus" aus.
Trotz seiner Kritik an patriarchalen Herrschaftsformen
konnte sich Max Weber im Umgang mit seiner Frau von einer gewissen
patriarchalischen Haltung nicht frei machen, die selbst dann noch
unfreiwillig durchbrach, wenn er ihr beteuerte, sie seien
gleichberechtigt, wie etwa in einem Brief kurz vor der Hochzeit, in dem
er ihr gelobte: "Mein Kind, nicht wahr? ... Wir stehen frei und gleich
zueinander."
Marianne Weber selbst war in der gemäßigten bürgerlichen
Frauenbewegung tätig. Ihr und "ihrem Kreis" gilt das letzte Kapitel des
Buches. Roth zögert nicht anzuerkennen, dass Max Webers Werk ohne seine
Frau seine später so herausragende Bedeutung für die Sozialwissenschaft
"leicht hätte verfehlen können". Zu Lebzeiten sei er zwar einer
"illustren Gruppe von hervorragenden Gelehrten" zuzurechnen gewesen,
allerdings sei durchaus nicht absehbar gewesen, dass seine Stimme auch
noch "in einer ferneren Zukunft" Gehör finden würde. Doch korrigiert
Roth Marianne Webers Selbststilisierung als Witwe, die ganz für die
"irdische Verewigung" ihres verstorbenen Mannes lebte, wie sie 1926 an
Paul Honigsheim schrieb. Denn obgleich ihre "Gefährtenschaft" mit Max
Weber lange "der Anker ihres Lebens" blieb, setzte sie sich in den
Dezennien nach der Jahrhundertwende mit sehr viel Engagement für die
Belange des Bundes Deutscher Frauenvereine ein, deren Mitglied sie über
Jahrzehnte hinweg war und dessen Vorsitz sie für einige Zeit innehatte.
Von hier aus führte sie einen doppelten Kampf, der sich ebenso sehr
gegen den "Patriarchalismus" richtete wie auch gegen "feministische
Positionen, welche die legitime Ehe zu bedrohen schienen". Obgleich
etwas zögerlich, so trug sie in den Jahren der Weimarer Republik doch
den um sich greifenden Nationalismus der gemäßigten Frauenbewegung mit.
Später versuchte sie, dem Nazi-Regime "auf ihre Weise zu widerstehen" ,
wobei es ihr Roth zufolge gelang, ihren "liberalen Nationalismus" in
die neue Demokratie hinüber zu retten.
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