H-Net: Humanities and Social Sciences Online

Guenther Roth. Max Webers Deutsch-Englische Familiengeschichte 1800-1950 mit Briefen und Dokumenten. Tübingen: Mohr-Siebeck, 2001. 721 pp. Photographs, letters, family trees, index of names. EUR 84.00 (cloth), ISBN 3-16-147557-7.
Reviewed by: Simone Lässig, German Historical Institute Washington, D.C..
Published by: H-German (December, 2004)

Guenther Roth hat mit dieser Monographie zweifellos einen gewichtigen Beitrag zur "Weberforschung" vorgelegt: Hier fließt ein über Jahrzehnte erarbeitetes, auf unermüdlicher Quellensuche und -auswertung basierendes Wissen über Max Weber, vor allem aber über die Geschichte seiner Familie zusammen, so dass man wohl mit einigem Recht von einem "Lebenswerk" sprechen kann.

Wer von Roth, eben weil er ein intimer Kenner der Familiengeschichte ist, eine biographische Studie erwartet, der wird freilich etwas enttäuscht sein: Eine Biographie des ebenso prominenten wie umstrittenen Soziologen wollte Roth nicht schreiben und er hat es auch nicht getan. Wohl aber hat er eine Vorarbeit für eine solche noch ausstehende kritische Biographie geleistet (man wartet gespannt auf die Arbeit von Joachim Radkau), die nicht hoch genug bewertet werden kann. Roth porträtiert das personelle Umfeld, durch das Weber sozialisiert und geprägt wurde. Hierbei spielt--und dies gilt selbst für die bis ins ausgehende 18. Jahrhundert reichenden Ausführungen--implizit immer wieder die Frage eine Rolle, wie familiäre Prägungen und Erfahrungen nicht nur bestimmte Charaktereigenschaften und spezifische Verhaltensweisen, sondern auch wissenschaftliche Interessen beeinflussen konnten und beeinflussten. Für einen künftigen Biographen von Max oder auch Marianne Weber wird dieses Buch daher zur unersetzlichen Fundgrube an Quellen und neuen, bisher nicht oder kaum bekannten Fakten, an Querverweisen und familiären Beziehungsgeflechten darstellen. Ja mehr noch: Roth hat mit dem größten Interesse für jedes noch so kleine Detail, mit detektivischem Gespür und einem erstaunlichen Elan Primärdokumente zusammengetragen, die es ihm gestatten, das von Marianne Weber 1926 publizierte Lebensbild ihres Mannes kritisch zu prüfen und es in vielen Fragen zu korrigieren. Da dieses Lebensbild die Weberrezeption über viele Jahrzehnte hinweg geprägt hat, ist allein dies schon kein geringes Verdienst.

In der Struktur seiner Darstellung orientiert sich Roth an neueren Ansätzen, die bewusst auf eine durchgängige (familien-) biographische Erzählung verzichten, um Brüche und Ambivalenzen, turning points und eher kurzfristig angelegte Entwicklungen hervortreten zu lassen. Obwohl "Kontinuität" und familiäre Traditionslinien für Roth letztlich doch enorm wichtig sind, hat er jedes Kapitel als jeweils eigenständigen, thematisch begründeten Essay strukturiert. Dabei kann er zwar im Wesentlichen dem chronologischen Prinzip folgen; einige Kapitel verlangen aber auch nach einer eigenen Chronologie oder vereinen ganz verschiede Zeitabschnitte. Insgesamt besteht das Buch aus 17 Kapiteln bzw. Essays. Im ersten Kapitel entwickelt Roth sein erkenntnisleitendes Konzept eines kosmopolitischen Nationalismus. Dem folgen Ausführungen zu Alltag, Unternehmen, Netzwerken und politischem Engagement der Familien Souchay und Fallenstein (II.-VII.), denen Max Webers Mutter Helene entstammte. In Kapitel VIII erläutert Roth die "Religiöse Familienkonstellation" und im Kapitel IX beschäftigt er sich mit jenen Konflikten, die innerhalb der Familie über die Reichseinigung aufkeimten. Im Zentrum des X. Kapitels steht die Akademikerfamilie Baumgarten--Ida Baumgarten war Helene Webers Schwester--und ihr Alltag im Elsass. Der Familiensolidarität unter den Falleinsteinkindern, das heißt Max Webers Mutter und deren Geschwistern, gilt das XI. Kapitel, während Max Webers Vater, und hier vor allem seine politische Tätigkeit im XII. Kapitel ausführlich (und sehr viel ausgewogener als bei Marianne Weber) vorgestellt wird. Einem Essay zum Problem des familiären Antisemitismus (XIII) schließt sich die Untersuchung der wirtschaftlichen und ideellen Impulse an, die Max Weber im bzw. vom anglo-amerikanischen Raum empfangen hat. Kapitel XIV untersucht die Familiendynamik im Elternhaus von Max Weber, Kapitel XV konzentriert sich auf das Zustandekommen der Ehe von Marianne Schnitger mit deren Cousin Max Weber. Das XVII. und letzte Kapitel verfolgt dann Marianne Webers Leben und Wirken bis in die NS- und Nachkriegszeit.

Schon diese kurze Inhaltsangabe deutet an, dass Guenther Roth die Webersche Familiengeschichte in einer ganz ungewöhnlichen Tiefe und Breite ausgeleuchtet hat. Hervorhebenswert ist etwa, dass er die weiblichen und die männlichen Familienstränge gleichermaßen berücksichtigt und dass er sie jeweils drei, teilweise noch mehr Generationen zurückverfolgt. Hierbei fragt er immer wieder nach den sozialen und ökonomischen Fundamenten bürgerlichen Lebens und Arbeitens. Zugleich geht es ihm um die hierauf aufruhenden politischen, kulturellen und religiösen Muster der betreffenden Familien, wie sie sich im alltäglichen Mit- und Gegeneinander äußerten und wie sie möglicherweise auch Max Webers Einstellungen geprägt haben. Auf der Grundlage unzähliger Briefe entsteht so ein Panorama, das als gewichtiger Beitrag zur Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte, aber auch der politischen Leistungen und Versäumnisse des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhunderts eingestuft werden muss: Zum ersten schärft Roth den Blick für die frühe internationale Verflechtung von Unternehmen bzw. Bürgerfamilien, für ihre Mobilität und ihren weiten, wie selbstverständlich über die deutschen Grenzen hinausreichenden Blick. Das Anliegen, Max Webers oft kritisierten Nationalismus zu relativieren und eine nicht minder starke kosmopolitische Orientierung herauszuarbeiten, zieht sich als roter Faden durch das gesamte Buch. Roth entwickelt die anregende These von einem im Familiengedächtnis wurzelnden kosmopolitischen Nationalismus und einem anglophilen Liberalismus in seinem ersten, mehr oder weniger programmatischen Kapitel und zieht sie--freilich nicht immer gleichermaßen überzeugend--durch seine gesamte Argumentation, die damit ein quellenkritisch begründetes Gegenbild zu Mariannes Webers Ansatz darstellt.

Der Wert dieser Familiengeschichte für die Bürgertumsforschung leitet sich zum zweiten daraus ab, dass sie die beiden großen Fraktionen--das Besitz- und das Bildungsbürgertum --einschließt und in ihrer vielfältigen Verflechtung hervortreten lässt. Roth analysiert ökonomisches Handeln, Wege zur Vermögensbildung und -mehrung, Heirats- und Bildungsstrategien, kulturelle Muster und religiöse Determinanten des Familienlebens und lässt auf diese Weise erahnen, wie "Vergesellschaftung" im Alltag und in der Generationenabfolge aussehen konnte. Bei all dem spricht er zum dritten der Kategorie "Gender" einen ausgesprochen hohen Erklärungswert zu--und zwar ohne, dass er dies wortreich theoretisch begründet. Sein Buch ist vielmehr ein gelungenes Beispiel dafür, dass Gender History als Teil einer Mainstream History geschrieben und Frauen so manches Mal auch mehr Raum gegeben werden kann als männlichen Akteuren. Für Arbeiten, die sich mit Unternehmer- und Gelehrtenfamilien beschäftigen, ist das keineswegs eine Selbstverständlichkeit, vielmehr ist in diesen Fällen die Geschichte der Familie zumeist die Geschichte der produktiven Männer. Dass sich Roth--obwohl ihm viel daran liegt, den neuen "Geist des Kapitalismus" in den familiären Unternehmen wiederzufinden--gerade nicht auf die Vorstellungen und Perspektiven der Väter, Söhne und Ehemänner beschränkt, liegt vor allem an dem Umstand, dass ein Großteil der von ihm ausgewerteten Briefe aus weiblichen Federn stammt. So kann Roth auch die die Handlungsspielräume der Frauen vermessen und dabei den unterschiedlichen Lebensphasen--von der Tochter über die Ehefrau bis zur Witwe--gerecht werden. Und das entspricht auch durchaus ihrer Bedeutung für die Familie, denn in fast allen behandelten Zweigen und Generationen waren es die Frauen, die ein vergleichsweise großes Vermögen in die Ehe einbrachten und damit das ökonomische Fundament des Unternehmens oder auch der wissenschaftlichen Karriere des Mannes legten. Ob Max Weber ohne die finanzielle Sicherheit, die seine Frau ihm verbürgte und die ihm früh die Existenz als privatisierender Wissenschaftler gestattete, zu den Leistungen fähig gewesen wäre, für die er heute weithin geschätzt wird, ist zumindest fraglich. Nicht minder interessant ist es zu lesen, wie Max Webers Mutter Helene und seine Tante Ida nach dem Tode der Männer in der Öffentlichkeit aktiv wurden. Beide nutzten ihr Vermögen, über das sie nun endlich völlig frei verfügen konnten, für sozial-charitative Zwecke, denen sie keineswegs nur sporadisch, sondern mit nahezu professioneller Energie und einem spezifischen Verständnis von "Beruf" nachkamen. Darüber hinaus begannen sie öffentlich zu "politisieren" bzw. als "fundraiser" aktiv zu werden. Friedrich Naumanns erste Reichstagskandidatur im Jahr 1898 war von Ida und Helene Weber mit finanziert worden und ein Jahr später übergaben Idas Erben Naumann eine größere Summe, um ihm einen Englandaufenthalt zu ermöglichen.

Nicht minder interessant ist das Material, das Roth zur Entwicklung von Marianne Weber präsentiert. Sie nimmt hier die Konturen einer selbstbewussten und in vieler Hinsicht durchaus modernen Bürgertochter an, die zwar zum einen gewillt war, ihren Mann zu produktiven Höchstleistungen zu treiben und ihm hierfür alle Steine aus dem Weg zu räumen, die zum anderen aber auch ihren Anspruch geltend machte, selbst wissenschaftlich zu arbeiten, was für eine Professorengattin zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch keineswegs typisch war und was auch nur von wenigen Gelehrten toleriert bzw. unterstützt wurde. Die in einem noch druckfrischen Sammelband dokumentierte Einsicht, dass Marianne Weber selbst gedacht und geschrieben und überdies ihren Mann als Autor etabliert hat, dass ihre Publikationen also keineswegs (nur) auf Max Weber zurückgingen, deutet Roth also bereits an. Ohnehin setzt er auch in diesem Kontext einige neue Akzente. So lässt er das überhaupt erste Kapitel, das sich dezidiert mit Max Weber und seiner Frau beschäftigt, erst auf Seite 539 beginnen--sein Hauptinteresse gilt eben tatsächlich den familiären Wurzeln--und überschreibt das darauf folgende und zugleich letzte Kapitel "Marianne Weber und ihr Kreis." Hier wird das Leben der Ehefrau mit der gebotenen Ernsthaftigkeit bis zu ihrem Tode weiterverfolgt und nicht nur als kurzes Nachspiel eines viel früher zu Ende gegangenen, aber deutlich prominenteren männlichen Lebens verstanden.

Trotz dieser unbestrittenen Stärken hinterlässt das Buch keinen ungetrübt positiven Eindruck: Oftmals begnügt sich Roth mit der Aneinanderreihung von Fakten und Quelleneinschüben, wo eine analytische Aufbereitung der immensen Stofffülle wünschenswert und Erklärung statt Beschreibung notwendig gewesen wäre. Auch der Stil des Autors lässt manche Wünsche offen. Zum einen offenbart er eine ausgeprägte Vorliebe für kleinste Details und lange, teilweise ermüdende Zitate. Zum anderen setzt er ausgesprochen viel Vorwissen voraus. Bereits in der Einleitung schwirrt es nur so von Namen und Familienbeziehungen, die sich--da nicht systematisch eingeführt--eigentlich nur dem Weber-Experten erschließen können. Roth fiel es beim Schreiben offenbar schwer, sich einen Leser vorzustellen, der Marianne Webers Lebensbild nicht kennt und in allen Einzelheiten erinnert. Darüber hinaus wird die Lesbarkeit des voluminösen Buches auch durch die an sich mutige Entscheidung beeinträchtigt, keine klassische Biographie anstreben zu wollen. Damit entspricht er durchaus den Erwartungen, die in der Diskussion um moderne Formen der historischen Biographie--und hier vor allem im Anschluss an Pierre Bourdieus Warnungen vor der "biographischen Illusion"--immer wieder formuliert werden: Um Brüche, Verwerfungen und Diskontinuitäten wahrzunehmen und nicht die Illusion eines in sich geschlossenen, kohärenten und durchgängig sinnerfüllten Lebens zu erzeugen, solle man--so heißt es in jüngster Zeit häufig--auf die klassische biographische Erzählung verzichten und einzelne Elemente nebeneinander stellen, also das tun, was Roth in seinem Buch praktiziert hat. Nach der Lektüre der einzelnen Essays und Exkurse stellt sich aber dann doch die Frage, inwieweit "Leben" gleich ob von Familien, Familienverbänden oder Individuen--bei einem weitgehenden Verzicht auf biographische Narrative überhaupt noch erzählbar und lesbar sind.

Einige Mängel weist das Buch in formaler Hinsicht auf: Zum einen enthält es hier und da grammatikalische Fehler, die--sicher durch Korrekturarbeiten entstanden--in den Zuständigkeitsbereich eines Lektors fallen sollten. Zum anderen lässt der an sich gewichtige Anhang, in dem sich neben Verwandtschaftstafeln und zahlreichen Briefen auch interessante Angaben zu den Vermögensverhältnissen der einzelnen Familien und zur Firmengeschichte der Souchays und der Webers finden, einige Wünsche offen. Dass der Verlag nicht nur auf ein Sachregister, sondern auch auf ein Literaturverzeichnis verzichtet hat, verstärkt den Eindruck, dass Roth seine 700 Seiten Darstellung nur für eine sehr kleine community von "Weberologen" geschrieben hat, die sich die wenige, ihnen noch unbekannte Literatur aus den Fußnoten "herauspicken." Schade: das Buch hätte das Potenzial gehabt, einem viel breiteren Publikum einen einzigartigen Einblick in anderthalb Jahrhunderte deutsch-englischer Bürgertumsgeschichte zu vermitteln, aber Autor und Verlag haben sie nicht vollständig genutzt.

Library of Congress Call Number: HM477.G3R675 2001

Subjects:

Purchasing through these links helps support H-Net
PDF Printable Version Barnes and Noble Amazon.com Amazon.de
Citation: Simone Lässig. "Review of Guenther Roth, Max Webers Deutsch-Englische Familiengeschichte 1800-1950 mit Briefen und Dokumenten," H-German, H-Net Reviews, December, 2004. URL: http://www.h-net.org/reviews/showrev.cgi?path=275681104946962.