Titel
Zweierlei Erinnerung. Die NS-Vergangenheit im geteilten Deutschland


Autor(en)
Herf, Jeffrey
Erschienen
Anzahl Seiten
558 S.
Preis
DM 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan-Holger Kirsch, Universität Bielefeld

Der oeffentliche Umgang mit dem Nationalsozialismus hat in den 90er Jahren deutlich selbstreflexive Zuege erhalten. Zwar war die Frage nach der 'Angemessenheit' den Erinnerungskonflikten schon frueher eingeschrieben, doch hat sie sich erst in juengster Zeit zu einem Metadiskurs verselbstaendigt. Martin Walsers Friedenspreisrede in Frankfurt a.M., in der der Schriftsteller vor einer "Dauerpraesentation unserer Schande" warnte, ist lediglich ein aktuelles Beispiel einer solchen Tendenz. Holocaust-Forscher wie Ulrich Herbert befuerchten mit einem gewissen Recht, dass sich die Identitaetsdebatten von ihrer historisch-empirischen Grundlage abkoppeln.

In dieser Situation ist es hilfreich, einen genauen Blick auf die Anfaenge der NS-Erinnerung in den 40er und 50er Jahren zu werfen, in denen der Holocaust alles andere als ein Zentralthema von Politik und Medien war. Besonders vielversprechend ist eine derartige Analyse, wenn sie von einem aussenstehenden Beobachter wie dem amerikanischen Historiker Jeffrey Herf vorgelegt wird, der ein genauer Kenner der neueren deutschen Geschichte ist. Sein kuerzlich in deutscher Ausgabe erschienenes Buch (1) ist insofern eine Innovation, als es die Erinnerungspolitiken West- und Ostdeutschlands parallel betrachtet, was zuvor nur in Ansaetzen versucht wurde (2). Herf unternimmt es, den Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Langzeitperspektive der fuenf Nachkriegsjahrzehnte darzustellen. Dabei konzentriert er sich auf das Verhalten der politischen Eliten, weil er an der gesellschaftlichen Wirksamkeit und zugleich an der gesellschaftlichen Eingebundenheit von Ideen interessiert ist (S. 18 f.). Welche Vor- und Nachteile dieser Zugriff mit sich bringt, wird noch zu erlaeutern sein.

Die Studie relativiert die populaere These, dass vor allem der Kalte Krieg die Argumentationsmuster des deutschen Erinnerns gepraegt habe, in doppelter Hinsicht: Zum einen betont Herf, dass das Geschichtsbild der fuehrenden Nachkriegspolitiker stark von ihrer persoenlichen Sozialisation und theoretischen Schulung in der Zeit vor 1945, ja zum Teil vor 1933 bestimmt war. Zum anderen macht der Autor auf eine Schwierigkeit aufmerksam, die sich in beiden deutschen Staaten auch unabhaengig von der Blockkonfrontation gestellt haette: Wie liess sich eine Bevoelkerung regieren, die bis zum 8. Mai 1945 eine weitgehend nationalsozialistisch integrierte 'Volksgemeinschaft' gewesen war? Welche Antworten die gegensaetzlichen politischen Systeme darauf gaben und welche Konsequenzen dies fuer die (zeitgenoessisch weiterhin so bezeichnete) 'Judenfrage' hatte, steht im Zentrum von Herfs Untersuchung. Als Quellenmaterial dienen ihm vorrangig die Redetexte und Nachlaesse der massgeblichen Politiker sowie Akten des Ministeriums fuer Staatssicherheit der DDR.

Aus Sicht der kommunistischen Orthodoxie der 30er Jahre galt der Antisemitismus als "Ueberbauphaenomen", das fuer den Grundcharakter des Faschismus als hoechster Form des Kapitalismus allenfalls periphere Bedeutung besitze. Dass die Exil-KPD nach dem Novemberpogrom von 1938 zur 'Solidaritaet mit unsern juedischen Mitbuergern' aufrief (vgl. S. 30), blieb eine Ausnahme. Die Moskauer Emigranten wie Ulbricht und Pieck erhielten direkte Kenntnis von dem deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, betrachteten die Judenverfolgung aber als nachgeordnetes Problem. Eine entschiedenere Anteilnahme an juedischen Schicksalen vermieden sie auch deshalb, um der NS-Propaganda gegen den 'juedischen Bolschewismus' kein zusaetzliches Material zu liefern. Eine weitere praegende Erfahrung des Moskauer Exils war es, dass der erhoffte Widerstand der Deutschen weitgehend ausblieb. Ulbricht und sein Umfeld gelangten zu der Erkenntnis, dass eine kommunistische Erziehungsdiktatur nach Kriegsende unausweichlich sein werde.

Anders als in Moskau rueckte der Antisemitismus fuer die Westemigranten der KPD "von der Peripherie ins Zentrum", wie Herf erlaeutert. Paul Merker, Politbueromitglied und selbst kein Jude, lebte seit 1942 in Mexiko-Stadt, wo er zahlreiche persoenliche Kontakte mit Juden besass und zu einem weiten Verstaendnis des Antifaschismus gelangte. Mit seinen Publikationen setzte er sich dafuer ein, den politisch, rassisch und religioes Verfolgten nach Kriegsende ohne Unterschied Wiedergutmachung zu leisten. Im Gegensatz zur bisherigen Parteilinie wies er darauf hin, dass der Antisemitismus ein eigenstaendiger Faktor des Faschismus sei, der mit dem Uebergang zum Sozialismus nicht automatisch der Vergangenheit angehoeren werde. Die historische Erfahrung des Holocaust erforderte es aus seiner Sicht, die marxistisch-leninistische Theorie in diesem Punkt zu modifizieren.

In der unmittelbaren Nachkriegszeit, von Herf als "Nuernberger Interregnum" bezeichnet, stiessen die gegensaetzlichen Antifaschismus-Konzeptionen in der SBZ aufeinander. Die Jahre 1945 bis 1948 waren eine relativ offene Phase, da die kommunistische Erinnerung noch nicht eindeutig kanonisiert war. So wurden Juden bei den ersten Gedenkfeiern gleichberechtigt zu den NS-Opfern gerechnet, und ueberlebende KZ-Haeftlinge fanden durchaus Gehoer. Merker, der im Sommer 1947 nach Berlin zurueckkehrte, machte sich fuer eine umfassende Erinnerung und soziale Versorgung aller Verfolgten stark. Bald setzte jedoch ein "Wettstreit der Trauernden um die begrenzten Ressourcen der Anerkennung" ein (S. 88), bei dem die juedischen Ueberlebenden ins Hintertreffen gerieten. Spaetestens 1949/50 bestand keine Aussicht mehr auf eine Solidaritaet zwischen Kommunisten und Juden; die Moskauer Fraktion hatte sich durchgesetzt. Das Argument gegen eine allgemeine Wiedergutmachung lautete unter anderem, dass solche Leistungen nur den juedischen Kapitalisten und damit dem Klassenfeind zugute kaemen - hier schwangen deutliche antisemitische Toene mit. Die (aktiven) kommunistischen 'Kaempfer' erhielten einen eindeutigen Vorrang gegenueber den (passiven) juedischen 'Opfern'.

In dem dichtesten, zugleich spannenden und erschreckenden Kapitel schildert Herf die politische Ausschaltung Paul Merkers und seines Umfelds zwischen 1949 und 1956. Die Kampagne gegen 'Kosmopolitismus', die antiwestliche und antisemitische Ressentiments erneuerte, ging zwar von der Sowjetunion aus, doch leisteten die ostdeutschen Kommunisten ihren eigenstaendigen Beitrag. Der Antifaschismus degenerierte nun zum Mittel der Immunisierung gegen Kritik und zur wohlfeilen Muenze im Kampf um die (Deutungs-)Macht. Merker, der im uebrigen keine abweichenden Positionen vertrat, wurde wegen seines Mexiko-Aufenthalts und wegen seines Eintretens fuer die Juden der imperialistischen Agententaetigkeit beschuldigt. Dem Parteiausschluss von 1950 folgte Ende 1952 - kurz nach dem Prager Slansky-Prozess - die Verhaftung durch die Stasi. Herf misst diesem Fall und seinem Kontext eine aehnliche Bedeutung bei wie der Dreyfus-Affaere fuer das Frankreich der Jahrhundertwende (S. 15).

Der Winter 1952/53 markierte die entscheidende Zaesur fuer die endgueltige "Marginalisierung des Holocaust" (S. 130), die im Grundsatz bis zum Ende der DDR beibehalten wurde. Es hatte mehr als nur symbolische Bedeutung, dass im Januar 1953 vier Vorsitzende von Juedischen Gemeinden aus Ostdeutschland in den Westen fluechteten. Merker selbst wurde in einem Geheimprozess vom Maerz 1955 zu achtjaehriger Haft verurteilt; seine Stasiakte war inzwischen auf ueber 1.000 Seiten angewachsen. Fuer das Zentralkomitee war es schlechthin unbegreiflich, dass sich ein nichtjuedischer Kommunist fuer die Belange von Juden einsetzen konnte, ohne vom amerikanischen Geheimdienst bezahlt zu sein. Zwar wurde Merker im Januar 1956 vorzeitig freigelassen, doch hatte der Fall ein hinreichendes Signal gegeben, dass seine Auffassungen unerwuenscht waren. Einigen Juden wie Albert Norden und Alexander Abusch gelang es, ihre Parteiaemter zu behalten oder wiederzuerlangen; sie waren freilich dem starken Assimilationsdruck ausgesetzt, ihre juedische ganz der kommunistischen Identitaet unterzuordnen.

In der Aera Ulbricht, aber auch unter Honecker blieb das Erinnern an den Nationalsozialismus fortan darauf reduziert, die SED-Herrschaft nach innen abzusichern und nach aussen gegen die angeblichen 'Faschisten' in Bonn abzugrenzen. Mit Gedenktagen und Gedenkstaetteneinweihungen als "hegelianischen Momenten" (S. 196-199, S. 209-216) stilisierte die DDR-Fuehrung das 'Vermaechtnis der Helden des antifaschistischen Widerstandskampfes' zu einer saekularen Erloesungsgeschichte, in der Trauer und Nachdenklichkeit keinen Platz hatten. (Die Fotos der Gedenkfeiern, die in der englischen Ausgabe des Buchs enthalten sind, fehlen leider in der deutschen Version.) Die historische Spezifik des NS-Staats gegenueber anderen kapitalistischen Systemen der Vergangenheit und Gegenwart wurde systematisch bestritten. Als die Bundesrepublik materielle Wiedergutmachung leistete, kritisierte die DDR dies als rein taktische Massnahme. Im ostdeutschen Staat seien die gesellschaftlichen Grundlagen des 'Faschismus' dauerhaft ueberwunden worden, so dass man zu keinen weiteren Leistungen verpflichtet sei. Auch die Feindschaft gegenueber dem Staat Israel wurde nicht als Widerspruch, sondern als Konsequenz des offiziellen Antifaschismus ausgegeben.

Vor diesem Hintergrund fragt Herf, wie es in den Westzonen und in der fruehen Bundesrepublik gelingen konnte, die Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust in das staatliche Selbstverstaendnis zu integrieren. Hier lag die Bedeutung des "Nuernberger Interregnums" darin, das oeffentliche Leugnen des Genozids unmoeglich zu machen und eine Gruppe von Anti- oder zumindest Nichtnazis in die politischen Schluesselstellungen zu bringen. Anders als in der SBZ/DDR war die neue westdeutsche Fuehrungsschicht, die ihre Erfahrungen und Geschichtsbilder groesstenteils in der Weimarer Zeit erworben hatte, am Aufbau einer liberalen Demokratie interessiert. Mit den ostdeutschen Politikern teilte sie andererseits das Misstrauen in eine Bevoelkerung, deren demokratische Reife zunaechst mehr als zweifelhaft war.

Adenauer zog daraus fruehzeitig die Konsequenz, der Etablierung einer stabilen Demokratie und der Westintegration den Vorrang vor einer offenen Erinnerung zu geben. Der Nationalsozialismus sei am ehesten dadurch zu ueberwinden, direkte Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit zu umgehen. An der Notwendigkeit der Wiedergutmachung liess der Kanzler keinen Zweifel; er war aber nach Kraeften bemueht, "den Schlag fuer die nationale Psyche abzumildern", wie Herf konstatiert (S. 335). Schon vor Gruendung der Bundesrepublik und auch danach drang Adenauer darauf, die Strafverfolgung auf die - angeblich wenigen - 'wirklich Schuldigen' zu beschraenken. Herf betont, dass dies Adenauers "groesster moralischer und politischer Fehler" gewesen sei (S. 447), verdeutlicht jedoch, dass das Spektrum realistischer Alternativen begrenzt war. Das Aufkommen einer nationalistischen Systemopposition verhindert zu haben, war ein nicht geringes Verdienst des Kanzlers, auch wenn es aus demokratietheoretischer Sicht mit erheblichen Belastungen verbunden war (3).

Die erkennbare Sympathie des Autors gilt Kurt Schumacher, der "die ueberragende moralische Gestalt der Gruendergeneration" gewesen sei (S. 332), weil er fuer ein anderes Integrationsmodell stand: Demokratie nicht unter Verzicht auf, sondern gerade durch kritische Aneignung der NS-Vergangenheit. Bei der ersten Bundestagswahl von 1949 zeigte sich, dass er damit keine Erfolgsaussichten hatte. Herf macht indes auf Schumachers wichtige Rolle aufmerksam, das Wiedergutmachungsabkommen unterstuetzt und Adenauers Politik in diesem Punkt erst ermoeglicht zu haben. Anerkennung zollt er auch Theodor Heuss, der als Bundespraesident keine wahltaktischen Ruecksichten nehmen musste. Heuss habe es vermocht, "den Deutschen Fuehrung und Anstoss zu geben" (S. 388), indem er die "Sprache des Patriotismus" mit der Erinnerung verband (S. 372). Allerdings habe gerade er es versaeumt, auf eine entschiedenere Strafverfolgung der NS-Verbrecher zu dringen.

Fuer die 50er Jahre stellt Herf klar, dass das aus heutiger Sicht Wuenschenswerte in der damaligen Situation wohl kaum erreichbar gewesen waere: "Mehr Demokratie zu wagen bedeutete, Waehlern eine Stimme zu geben, die sich vehement gegen eine oeffentliche Diskussion der NS-Vergangenheit wehrten." (S. 315 f.) Im Verlauf der 60er Jahre und speziell mit der Kanzlerschaft Brandts habe sich dies grundlegend geaendert, nachdem das politische System hinreichend gefestigt war: "Mehr Demokratie zu wagen bedeutete jetzt nicht weniger, sondern mehr politische Diskussionen ueber den Holocaust und andere Verbrechen der NS-Zeit." (S. 318)

Diese Unterscheidung ist plausibel, und Herf haette den Untersuchungszeitraum hier beenden sollen. Das Ueberblickskapitel zur oeffentlichen Erinnerung der 60er bis 90er Jahre geraet allzu holzschnittartig: Das Geschichtsbild der Bundespraesidenten und Bundeskanzler, die Bitburg-Affaere, die Jenninger-Rede und schliesslich das Gedenkjahr 1995 werden in raschem Durchgang eher abgehandelt als analysiert. Interessant ist in diesem Teil lediglich der Hinweis auf die DDR in ihrer Spaetphase: Eine offene Erinnerung, fuer die sich in den 80er Jahren manche Intellektuelle einsetzten, war nicht erreichbar, ohne den Konnex von Antifaschismus und Diktatur in Frage zu stellen. So muendete das Bemuehen um ein differenzierteres Gedenken zugleich in ein Plaedoyer fuer die Demokratie, und das antifaschistische Sinnkonzept war zu statisch, um dem etwas entgegensetzen zu koennen. Erst die frei gewaehlte Volkskammer der DDR war im April 1990 in der Lage, sich zu einer gesamtdeutschen Verantwortung fuer die NS-Verbrechen zu bekennen. Trotz aller Maengel der westdeutschen Erinnerung laesst Herf keinen Zweifel daran, dass sich das demokratische Modell insgesamt als flexibler erwies.

Die besondere Staerke der Studie liegt in der quellengesaettigten Darstellung der SBZ und der fruehen DDR. Auch der direkte Vergleich mit der Bundesrepublik, den Herf immer wieder einflicht, ist erhellend. So macht der Verfasser etwa auf die pragmatische Gemeinsamkeit zwischen Ulbricht und Adenauer aufmerksam, das Verhalten der Politiker, Beamten und sonstigen Buerger in der Gegenwart hoeher zu bewerten als ihre eventuellen Belastungen aus der NS-Vergangenheit. Das oeffentlich praesentierte Geschichtsbild baute in Ost und West gleichermassen darauf auf, den Taeterkreis moeglichst eng zu definieren. Deutlicher als in bisherigen Arbeiten wird bei Herf zudem, dass es in den beiden deutschen Staaten nicht nur zweierlei, sondern (mindestens) viererlei Erinnerung gab - naemlich die alternativen Konzepte, fuer die Ulbricht und Merker im Osten sowie Adenauer und Schumacher im Westen eintraten. Der Vorwurf an Herf, er biete "dem deutschen Leser nichts Neues" (4), ist also keineswegs gerechtfertigt.

Eher ist zu fragen, ob die Kontrastierung der erinnerungspolitischen Modelle nicht allzu schematisch ausfaellt. Wie Herf nur beilaeufig einraeumt (S. 330), sprach sich selbst Schumacher fuer eine weitreichende Rehabilitierung frueherer Angehoeriger der Waffen-SS aus (5). Auch auf die vergangenheitspolitischen Absprachen, die oft im stillen und parteiuebergreifend erfolgten, geht Herf nicht ein (6). Bei der Lektuere der westdeutschen Gedenkreden, die er ausfuehrlich zitiert, fallen gemeinsame Vorannahmen der politischen Lager auf - zum Beispiel die weithin selbstverstaendliche Gegenueberstellung von 'deutschem Volk' und 'juedischem Volk'. Die mit einem Adorno-Zitat gestuetzte Praemisse des Autors, dass die Einseitigkeiten der Erinnerung vorrangig bewusste Entscheidungen gewesen seien (S. 20), leuchtet nicht voellig ein. Gewiss war Adenauer ein geschickter Taktiker der Macht, doch ist die von den Mitscherlichs als "Unfaehigkeit zu trauern" beschriebene soziale Figuration wohl kaum auf eine blosse Manipulationsstrategie zu reduzieren. Unbewusste Mechanismen der Schuldabwehr, fehlendes Wissen oder mangelnde Bereitschaft zum Wissen-Wollen gab es bei den politischen Repraesentanten ebenso wie bei der Bevoelkerung, die sie vertraten.

Die Analyse der politischen Deutungskultur sollte deshalb durch Arbeiten zur soziokulturellen Ebene des Umgangs mit dem Nationalsozialismus ergaenzt werden. Wie Hartmut Berghoff kuerzlich dargelegt hat, kann ein solcher Zugriff etwa ueber die Lokalchronistik , den Sprachgebrauch und die Darstellungsweise der Medien erfolgen (7). Dabei waere fuer Westdeutschland auch die Frage der Periodisierung noch einmal zu diskutieren. Berghoff weist auf den Zaesurcharakter des Jahres 1955 als 'innerer Staatsgruendung' der Bundesrepublik hin, waehrend Herf diesen Einschnitt nicht erwaehnt.

Solche weiterfuehrenden Ueberlegungen zeigen, dass das vorgestellte, in weiten Teilen ausgesprochen spannende Buch dazu motiviert, die Forschungen ueber Erinnerung und Erinnerungspolitik fortzusetzen. Herfs angenehm sachlicher, aber zugleich engagierter Schreibstil ist vorbildlich dafuer, wie sich das Thema darstellen laesst, ohne die von Walser befuerchtete "Moralkeule" zu schwingen.

Anmerkungen:
(1) Engl. Originalausg.: Divided Memory. The Nazi Past in the Two Germanys, Cambridge, Mass./London 1997. Die im folgenden in Klammern angefuehrten Seitenangaben beziehen sich saemtlich auf die deutsche Ausgabe.
(2) Vgl. v.a. Bergmann, Werner/Erb, Rainer/Lichtblau, Albert (Hg.), Schwieriges Erbe. Der Umgang mit Nationalsozialismus und Antisemitismus in Oesterreich, der DDR und der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a.M./New York 1995 (Schriftenreihe des Zentrums f. Antisemitismusforschung Berlin Bd. 3); Danyel, Juergen (Hg.), Die geteilte Vergangenheit. Zum Umgang mit Nationalsozialismus und Widerstand in beiden deutschen Staaten, Berlin 1995 (Zeithist. Studien Bd. 4).
(3) Dies zeichnet sich inzwischen als Forschungskonsens ab; vgl. etwa Verwestlichung gegen den Strich. Zu Gruendungskonstellation und Erfolgsbedingungen der Bundesrepublik. Ein "Blaetter"-Gespraech mit Norbert Frei, in: Blaetter f. deutsche u. internationale Politik 43 (1998), S. 164-174.
(4) So die Rezension von Werner Roehr, in: Zeitschrift f. Geschichtswissenschaft 46 (1998), S. 468 f.
(5) Zu Schumachers Sicht- und Handlungsweise vgl. auch Buscher, Frank M., Kurt Schumacher, German Social Democracy and the Punishment of Nazi Crimes, in: Holocaust and Genocide Studies 5 (1990), S. 261-273.
(6) Vgl. die Rezension von Norbert Frei, Das geteilte Gedenken, in: ZEIT, 8.10.1998, Literaturbeilage, S. 39; sowie v.a. ders., Vergangenheitspolitik. Die Anfaenge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, Muenchen 1996.
(7) Berghoff, Hartmut, Zwischen Verdraengung und Aufarbeitung. Die bundesdeutsche Gesellschaft und ihre nationalsozialistische Vergangenheit in den Fuenfziger Jahren, in: Geschichte in Wissenschaft u. Unterricht 49 (1998), S. 96-114.

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