Cover
Titel
Revolution on My Mind. Writing a Diary Under Stalin


Autor(en)
Hellbeck, Jochen
Erschienen
Anzahl Seiten
422 S.
Preis
€ 26,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julia Herzberg, Graduiertenkolleg 1049, Universität Bielefeld

Wissenschaftliche Bücher lassen sich zwischen zwei Polen verorten. Die zum ersten Typ tendierenden zeichnen sich durch eine große These aus, welche die Verfasser mitunter beflügeln kann, großzügig über jene Kleinigkeiten hinwegzugehen, die der Darlegung die Faszinationskraft nehmen könnten. Die Autoren der zweiten Bücherart opfern hingegen dem alles abwägenden Urteil Eingängigkeit und Spannung. Pingelige Bedachtsamkeit erweist sich bei diesen Büchern als der großen Thesen Feind.

Hellbecks Studie über Tagebücher aus der Stalinzeit gehört ohne Zweifel zu der ersten Sorte. Streitbare Thesen, eine klare Gliederung, ein guter Schreibstil sowie eine ausgezeichnete Beobachtungsgabe machen sein Buch zu einem anregenden Lesevergnügen. In beeindruckender Weise gelingt es Jochen Hellbeck, mit Briefen, Fotografien sowie mit Interviews, die er mit einigen Tagebuchschreibern führen konnte, seine Argumentationslinien zu verdichten. Souverän bezieht Hellbeck sowohl die Entstehungsbedingungen und Aufbewahrungspraktiken als auch die Materialität der Quellen in seine Analyse mit ein.

Mit Schwung räumen Vorwort sowie die drei allgemeinen Kapitel mit einigen Annahmen der Stalinismusforschung, weniger mit der neueren Forschung zur russischen Autobiografik, auf, in der Hellbecks Name ohnehin seit den 1990er-Jahren durch zahlreiche Publikationen allgegenwärtig ist. Wie kein anderer hat er durch seine Aufsätze und Quellenpublikationen ihre Argumentationsweisen geprägt – Argumentationsweisen, die in der Hervorhebung des kollektiven Moments im russischen autobiografischen Schreiben sowohl mit der westlichen Sicht auf den russischen Menschen als auch mit dem Zugang der sowjetischen Geschichtswissenschaft zu autobiografischen Quellen korrespondierten. Entgegen der älteren Forschung schließen sich in Hellbecks Studie Kollektivität, Individualität und Subjektivität nicht gegenseitig aus. Stattdessen proklamiert er für die von ihm untersuchten Tagebuchschreiber eine „sowjetische Subjektivität“, die „Ich“ sagte, indem sie sich in ein „größeres Wir“ einschrieb. Ein „Wir“, das nicht mehr und nicht weniger war als die nach 1917 entstandene Ordnung.

Mit dieser These schreibt Hellbeck gegen zwei Überzeugungen an. Zum einen wendet er sich gegen die von ihm als „liberal“ bezeichnete Vorstellung, die im sowjetischen Alltagsleben ein Maskenspiel vermutete. Während sich nach dieser Auffassung der einfache Sowjetbürger auf der öffentlichen Bühne als loyaler Untertan präsentierte, offenbarte er im Privaten sein wahres, regimekritisches „Ich“. Die in westlichen Individualitätsvorstellungen verhafteten Historiker, die nach Hellbeck diese Annahme pflegten, erwarteten gerade von den Tagebüchern eine besondere Authentizität und die Möglichkeit, hinter die Larven zu schauen. Im Gegensatz zu den offiziellen Selbstpräsentationen hofften sie, in den täglichen Aufzeichnungen der unter dem Sowjetstern lebenden Menschen Gegenwelten zur sowjetischen Wirklichkeit sowie dem propagierten Menschenbild widersprechende Identitätsentwürfe finden zu können. Dieser Mutmaßung – so Hellbeck – widersprechen jedoch seine Quellenbefunde, die erst durch die Öffnung der Archive nach dem Zerfall der Sowjetunion zugänglich geworden seien. Der in der Öffentlichkeit vertretene Diskurs vom „neuen Menschen“ setze sich auf den Tagebuchseiten fort.

Die Dichotomie zwischen „privat“ und „öffentlich“ sei daher für die Sowjetunion hinfällig und keinesfalls nützlich, um sowjetische Subjektivitäten zu verstehen. Das Kollektiv besäße eine so große Suggestivkraft, dass es, wie Hellbeck mit seinen vier Fallstudien belegt, nicht nur das Tagebuchschreiben der Anhänger und Aufsteiger prägte (Leonid Potjomkin), sondern auch dem als „Kulak“ und „Volksfeind“ deklariertem Bauernsohn Stepan Podlubnyj sowie Angehörigen der Intelligenz (Zinaida Denisewskaja) als Muster für ihre Selbstpräsentation diente. Selbst der Dramatiker Alexander Afinogenow, der 1937 zwischen die Mühlsteine der Säuberung geriet, transformierte in seinem Tagebuch sein Selbst auf eine Weise, die ihn zur Zugehörigkeit zur sowjetischen Gemeinschaft befähigen sollte.

An dieser Stelle zeigt sich der zweite Impetus, der dem Buch zugrunde liegt. Im Sinne Hannah Arendts möchte Hellbeck die einschränkende und Rahmen setzende offizielle Ideologie mit den Handlungsfreiheiten des Einzelnen versöhnen. Das stalinistische Regime oktroyierte das neue Menschenbild nicht allein gewaltsam auf, sondern die Tagebuchschreiber hätten es aktiv für ihre Selbsterkundigungen übernommen. Die 1930er-Jahre wirkten entgegen bisheriger Annahmen nicht repressiv auf die tägliche Selbstbeschreibung zurück, sondern die Zahl der Tagebücher, in denen die neue Sprache gepflegt wurde, stiege in jenen Jahren auch außerhalb der Baustellen und Klassenräume – so Hellbeck – explosionsartig an.

So überzeugend Hellbeck argumentiert, bleiben doch Zweifel an seinen Ausführungen. Zweifel, die sich vor allem aus der mangelnden Transparenz über die ihm zu Grunde liegenden Quellen speisen. Zu selten liefert er Zahlen, zu eindeutig benennt er Mehrheitsverhältnisse, zu offensichtlich marginalisiert er Quellen, die seiner Hauptthese widersprechen. Leichthin wertet er jene Tagebücher als „vormoderne“ Einzelfälle ab, deren Schreiber sich den neuen Semantiken verweigerten (S. 62-63).

Aussagen über Konjunkturen des Tagebuchschreibens sind keineswegs so einfach zu treffen, wie Hellbeck suggeriert. Wir wissen nicht, wie viel geschrieben wurde und wie viel verloren ging. Inventarisierungsarbeiten, die vor allem die Heimatmuseen und Provinzarchive mit einbeziehen müssten, gibt es nur wenige. Tagebücher gerieten – und dies verschweigt Hellbecks publikumswirksames Insistieren auf eine Archivrevolution – nur schwerlich in die behördlich organisierten staatlichen Archive. Häufiger lassen sie sich in den großen Bibliotheken finden, wobei Hellbeck selbst einige seiner Beispiele der Handschriftenabteilung der Moskauer Leninbibliothek entnommen hat. Möglicherweise gehören Tagebücher – ausgenommen natürlich jene vermutete Vielzahl in den zentralen und regionalen KGB-Archiven, die auch Hellbeck nicht einsehen konnte – in erster Linie zu den übersehenen, weniger zu den gesperrten Archivbeständen.

Statt mit Generalisierungen Totalität zu beanspruchen, hätte seine Studie an Überzeugungskraft gewinnen können, wenn er die Grenzen des von ihm als allmächtig gezeichneten Diskurses hätte aufzeigen können. Gab es wirklich keine anderen Gruppenstrukturen, in deren Parametern die Selbstpräsentation erfolgen konnte? Gehören Selbstbilder und Biografiemuster so eindeutig zu den Phänomenen kurzer Dauer, dass sie sich breitenwirksam innerhalb von zwei Jahrzehnten radikal veränderten? Lässt sich in bäuerlichen Tagebüchern nicht auch die Beharrungskraft innerfamiliärer, beruflicher, lokaler und religiöser Schreibweisen nachzeichnen? Möglicherweise wären die Risse im offiziellen Diskurs unübersehbarer hervorgetreten, hätte Hellbeck offensiver auch abseits der Hauptstädte nach Quellen geforscht. Die Tagebücher seiner vier Fallstudien sind ausnahmslos in einem urbanen Umfeld entstanden. Sie stammen bis auf die Schreibhefte Denisewskajas alle aus Moskau.

Auch die Zugehörigkeit der Mehrzahl seiner Tagebuchschreiber zu einer Altersgruppe problematisiert Hellbeck unzureichend. Bis auf Denisewskaja gehören seine Autoren der jüngeren Generation an, die Kindheit und Jugend in der Sowjetunion verbracht haben und die erst in den 1920er und 1930er-Jahren mit dem Tagebuchschreiben begannen. Andere Quellen zeigen deutlich, dass die ältere Generation, vor allem dann, wenn sie schon vor 1917 ein Tagebuch führte, immun gegenüber den neuen Schreibweisen war. Statt ihr Leben als Suche nach dem „neuen Menschen“ zu präsentieren, gebrauchten sie bei zunehmender Repression Geheimschriften, nutzten das Altkirchenslavische oder brachen das Schreiben ab.

Mancher Blick auf das vorrevolutionäre autobiografische Schreiben, das entgegen der Auffassung Jochen Hellbecks nicht auf die Intelligenzija beschränkt war und das auch die weiter zurückreichende hagiografische Tradition umfasste, hätte für Hellbecks Studie zusätzlichen Erkenntnisgewinn bedeutet. Einerseits ließe sich damit deutlicher die zweiarmige Wurzel des sowjetischen Diskurses aufzeigen, andererseits hätte es Hellbeck davor bewahrt, in allen Erscheinungen sowjetische Schreibweisen zu vermuten. Für diese Tendenz zur „Sowjetisierung“ ein banales Beispiel: Die Bilanzen, die sich bei Podlubnyj am Ende eines Jahres finden lassen, führt Hellbeck auf die Jahresrückblicke in der sowjetischen Presse zurück. Jedoch so neu und so sowjetisch ist diese Erscheinung nicht. Gleichartige Rechenschaftsberichte über die persönlichen und wirtschaftlichen Erfolge zu Jahresende sind auch in vorrevolutionären Tagebüchern weit verbreitet. Sie sprechen weniger für den Einfluss der Staatspresse als für die enge Verwandtschaft von Tage- und Wirtschaftsbüchern.

Trotz des mitunter etwas zu engen Blickes, der ihn mehr Neuheiten denn Kontinuitäten erkennen lässt, hat Hellbeck wahre Pionierarbeit geleistet. Ihm gebührt nicht nur das Verdienst, bisher kaum beachtete Quellen erschlossen, sondern überhaupt ein neues Forschungsfeld für die Osteuropäische Geschichte geöffnet zu haben. Seine klaren und herausfordernden Thesen laden zur Weiterarbeit und Präzisierung ein.

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