F. Stern: Fünf Deutschland und ein Leben

Cover
Titel
Fünf Deutschland und ein Leben. Erinnerungen. Übersetzt von Friedrich Griese


Autor(en)
Stern, Fritz
Erschienen
München 2007: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
675 S., 27 Abb.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Annette Leo, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Wenn ein Historiker seine Lebenserinnerungen aufschreibt, bezieht er die Geschichte ein, vor deren Hintergrund und in deren Kontext sich alles abgespielt hat. Das ist gewissermaßen ein professioneller Reflex. Wenn das Forschungsfeld sich zudem räumlich wie zeitlich mit dem eigenen Lebensverlauf zumindest überschneidet, erscheint es geradezu unvermeidlich, dass das Erinnerungsbuch zu einem Geschichtsbuch wird, dessen Horizont sich weit über persönliche Erlebnisse und Erfahrungen spannt. Der aus Breslau stammende amerikanische Historiker Fritz Stern, Jahrgang 1926, hat ein solches Erinnerungs-Geschichtsbuch geschrieben.

Während seines reichen Forscherlebens hat Stern sich vor allem mit deutscher Geschichte beschäftigt: mit dem widerspruchsvollen deutsch-jüdischen Zusammenleben während der Kaiserzeit, mit dem Scheitern der Weimarer Demokratie, den intellektuellen Vordenkern des rassistischen Antisemitismus und dem Nationalsozialismus. Er hat damit die historischen Prozesse aufgegriffen, die seine eigene Biografie prägten: Hineingeboren in das liberale Breslauer deutsch-jüdische Milieu, als Sohn eines geachteten Mediziners und einer Reformpädagogin, musste er nach Hitlers Machtübernahme 1933 den Verlust aller Selbstverständlichkeiten dieser Existenz, die zunehmenden Einschränkungen des Lebens, Kälte und Feindschaft gegenüber den Juden, das Gefühl des Ausgeschlossenseins, der Stigmatisierung erleben. 1938 gelang der Familie schließlich die Flucht aus Deutschland in die USA, wo der junge Stern dankbar Toleranz und Demokratie erlebte und die Bildungs- und Entwicklungschancen ergriff, die ihm in seiner ursprünglichen Heimat verweigert worden waren.

Der Wissenschaftler Fritz Stern hat sich seinen Themen nachdenklich und unaufgeregt genähert. Er wollte nicht verdammen, sondern sich und anderen erklären, was geschehen war.1 Der Autobiograf Fritz Stern hat sich nun auf neue Weise selbst in die Geschichte mit hinein genommen: als der Sohn, der später die Briefe seiner Eltern liest und über deren Hoffnungen und Erwartungen an das Leben nachdenkt; als der Junge, der in der Breslauer Schule von Mitschülern und Lehrern gedemütigt wird, der genau am Tag des Münchener Abkommens am 30. September 1938 zusammen mit seinen Eltern in Rotterdam den Ozeandampfer besteigt; als der erwachsene Mann, der in den folgenden Jahren (und bis heute) immer wieder nach Europa und nach Deutschland zurückfährt – nicht nur, um in den Archiven zu arbeiten, auch um sich einzumischen und nach beiden Seiten Brücken der Verständigung zu bauen.

„Fünf Deutschland und ein Leben“ hat Stern sein Buch genannt. Gemeint sind damit die Weimarer Republik, das Regime des Nationalsozialismus, die beiden deutschen Staaten, die nach 1945 gegründet wurden, und schließlich das seit 1990 vereinigte Deutschland. Der Blick auf die eigene Lebensgeschichte ist damit schon sichtbar eingeschränkt. Im Mittelpunkt stehen nicht die mehr als sechs Jahrzehnte von Sterns Leben in den USA, nicht die mehr als fünf Jahrzehnte seiner Lehrtätigkeit an der New Yorker Columbia-Universität, sondern – auf eine kurze Formel gebracht – die lange Geschichte von Verlust und Wiedergewinnung einer Beziehung zu Deutschland, seiner ursprünglichen Heimat, die ihn zugleich abstieß und faszinierte und die ihm im Lauf der Jahrzehnte in immer anderer Gestalt begegnete.

Dies alles verständlich zu machen und dabei die Balance zwischen der Weltgeschichte und dem eigenen Leben nicht zu verlieren, ist eine große Herausforderung. Nach meinem Eindruck ist Stern dies nicht immer gelungen. Manchmal droht seine Lebensgeschichte hinter einem Berg von Geschichtsüberblicken zu verschwinden – über den Verlauf des Zweiten Weltkrieges, die Politik der Alliierten, die Adenauer-Ära, den Kalten Krieg, die deutsche Teilung, die ökonomische und politische Entwicklung in der DDR usw. –, ohne dass dabei etwas von dem erlebenden Ich des Schreibers sichtbar wird. Vielleicht liegt es auch daran, dass Stern dieses Buch ursprünglich für ein amerikanisches Publikum geschrieben hat, bei dem man zweifellos nicht viele Kenntnisse der wechselvollen deutschen Geschichte voraussetzen kann. Für die deutsche Ausgabe hätten diese Exkurse verkürzt werden sollen.

Die Darstellung wird aber immer dann packend und unverwechselbar, wenn der Autor seine eigenen Erlebnisse und Erfahrungen mit den historischen Geschehnissen verknüpft, wenn er von seinen Aktivitäten berichtet, damalige Wahrnehmungen mit späteren Erkenntnissen vergleicht und sich auch nicht scheut, Irrtümer einzugestehen – so etwa, als er sich bei seinem ersten Nachkriegsaufenthalt 1950 in der Bundesrepublik „heimatlos und verlassen fühlte“ und in allen uniformierten Deutschen „Nazigesichter“ zu sehen meinte (S. 254). 1954, anlässlich eines weiteren Deutschlandbesuchs, nahm er in Berlin im Hof des Bendlerblocks an der Gedenkfeier für die ermordeten Widerständler des 20. Juli teil. Dort erlebte er einen distanzierten und – wie ihm schien – dem Anlass des Treffens gegenüber eher gleichgültigen Bundeskanzler Adenauer. Beim Anblick der kleinen Gruppe der Angehörigen der Ermordeten, „ihre Gesichter hart und demütig geworden durch das Erlittene“, schämte er sich, so schreibt er, seines unterschiedslosen Hasses auf die Deutschen (S. 271).

Im Laufe der folgenden Jahre hat Stern viel getan, um seine Vorbehalte abzubauen. Er tat dies auf eine zugleich nachdenkliche und streitbare Weise und wurde nicht müde, die von ihm hoch geschätzten Ideale des Liberalismus in die Debatten einzubringen. Nicht zufällig wurde seine Stimme in der alten Bundesrepublik zum ersten Mal von einer größeren Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen, als er sich 1964 in die Auseinandersetzung um Fritz Fischers Revision der Kriegsschuldthese einmischte. Ein weiterer Höhepunkt des Buches ist zweifellos die Schilderung einer Zusammenkunft im Februar 1990 auf dem Landsitz von Margaret Thatcher, wo er gemeinsam mit anderen Experten der damaligen britischen Premierministerin helfen sollte, ihre Vorbehalte zu überwinden und „mit der deutschen Wiedervereinigung in der Gegenwart und mit dem künftigen vereinigten Deutschland“ zurechtzukommen (S. 592).

Anders als viele Memoirenschreiber aus Politik, Wirtschaft oder Kultur, die sich häufig nur im Rahmen ihres Fachgebiets sehen und darstellen können, hat Stern keine Angst davor, seine Gefühle mitzuteilen. Obwohl eigentlich eher ein Mann der Mäßigung und der differenzierten Beurteilung, geht es in seinem Buch an manchen Stellen recht leidenschaftlich zu – so, als er seine „Heimkehr“, wie er es nennt, im Jahre 1979 nach Wrocław/Breslau schildert. Er besuchte bei dieser Gelegenheit die Villa seiner Großmutter und sprach mit dem damaligen Bewohner, einem pensionierten polnischen Offizier, der die Lager Auschwitz, Birkenau und Buchenwald überlebt hatte und ihm die Tätowierung auf seinem Arm zeigte. „Auf dem Balkon zum Garten hinaus, wo ich als Junge gespielt hatte, schüttelten wir uns die Hände. […] Ich sagte ihm, ich sei froh, dass er hier wohne. Es war ein kurzer beglückender Moment der Zustimmung, dass in dieser verrückten Welt doch etwas gut ausgegangen war.“ (S. 657f.) Einen erschütternden Moment erlebte Stern, als er 1987 vor dem Deutschen Bundestag eine höchst ungewöhnliche Rede zur Erinnerung an den 17. Juni 1953 hielt und alle sich erhoben, um die Nationalhymne zu singen. „Ich war erfüllt von widerstreitenden Emotionen: Dies war die Hymne, die ich zu verabscheuen gelernt hatte, und ich hätte nie gedacht, dass ich sie freiwillig mitsingen würde, dass Haydns bewegende Melodie, ursprünglich Kaiser Franz II. zugedacht und dann so arglistig für Deutschland missbraucht, als ein Lied des Stolzes und des Friedens verstanden werden könnte.“ (S. 566)

Mir scheint, als speisten sich gerade diese sehr bewegenden Passagen nicht zuletzt aus einer früheren Sicht auf die Geschehnisse, der Sicht des Kindes, das sich bedroht fühlte, das verletzt wurde, dessen Lebenswelt zusammenbrach. In dem um Ausgewogenheit bemühten Text des Wissenschaftlers und Biografen blitzen sie bisweilen auf als kleine Splitter von Zorn und Angst, die immer noch schmerzen und die den Schreiber in seiner Auseinandersetzung mit dem vergangenen und gegenwärtigen Deutschland entscheidend vorantreiben.

Stern beginnt sein Erinnerungsbuch mit dem Deutschland, das er selbst nicht kennengelernt hat: mit dem Kaiserreich der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, das er „am besten zu verstehen glaubte“, weil er es viele Jahre lang erforscht hatte. Der Kreis schließt sich am Ende in Wrocław/Breslau, das seit 1945 zu Polen gehört. Im Jahr 2000 verlieh ihm die Universität seiner Geburtsstadt die Ehrendoktorwürde. Die Laudatio habe er nicht verstehen können, weil der Kopfhörer nicht funktionierte. Aber letztlich sei das gleichgültig gewesen, denn er habe sich „in Trance“ befunden. „[…] erneut dachte ich an meine Eltern, sah sie vor meinem geistigen Auge, spürte den Schmerz ihres Lebens stärker als ihre Freuden, und ich versank in der Flut der auf mich einstürzenden Gedanken, Bilder und tiefen Gefühle. War ich es, dem dies widerfuhr, und warum?“ (S. 657)

Vielleicht habe er, so räsoniert Stern rückblickend über seine historischen Forschungen, die „anonymen Kräfte“, die in der Geschichte wirken, bisweilen vernachlässigt, und sich zu sehr auf die Persönlichkeiten konzentriert. „Aber die Geschichte ist auch ein Drama von einzelnen, von Geschöpfen ihrer Zeit, die wiederum ihre Zeit prägen.“ (S. 434) Seine eigene Lebensgeschichte und das Buch, das er darüber geschrieben hat, legen davon ein beredtes Zeugnis ab.

Anmerkung:
1 Vgl. in deutscher Übersetzung u.a.: Stern, Fritz, Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland, Bern 1963; ders., Gold und Eisen. Bismarck und sein Bankier Bleichröder, Frankfurt am Main 1977; ders., Der Traum vom Frieden und die Versuchung der Macht. Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert, Berlin 1988. Alle drei Werke sind in mehreren Auflagen und Ausgaben erschienen. Siehe in Kürze auch ders., Der Westen im 20. Jahrhundert. Selbstzerstörung, Wiederaufbau, Gefährdungen der Gegenwart, Göttingen 2008.